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Interview mit Michael Heise, Chefökonom von HQ Trust und Gründer von Macroadvisors

Von DR. HERBERT WALTER – 27. Mai 2020

 

Wohin wird die Reise an den Aktienmärkten gehen? Der langjährige Chefvolkswirt der Allianz, Michael Heise, spricht im exklusiven Interview über neue Chancen für Aktienanlagen und mögliche Nachwehen der Corona-Krise.

Michael Heise glaubt, dass sich die Finanzmärkte etwas vom aktuellen Geschehen in der Wirtschaft abgekoppelt haben. In den Aktienkursen sei „viel Optimismus eingepreist“, so Heise. Dennoch sieht er das derzeitige Einstiegsniveau für langfristige Anleger als „nicht schlecht“ an. Er erwartet, dass die Bewertungen an den Aktienmärkten in den nächsten Quartalen mit der Erholung der Wirtschaft weiter nach oben tendieren. Diese Entwicklung dürfte aber unter heftigen Schwankungen erfolgen, weil noch Nachwehen der Corona-Krise zu verkraften sind.

So lautet jedenfalls eine Schlussfolgerung unseres heutigen Interviewpartners. Für fragwürdig hält es Heise, auf die kurzfristige Volatilität zu spekulieren. Auch Anlagen in krisengeschädigten Branchen wollen gut überlegt sein. Neue Chancen für Aktieninvestments sieht er beispielsweise in Unternehmen für medizinische Ausrüstung, Gesundheitsprodukte, E-Commerce und für digitale Kommunikationsmittel wie Telearbeit bzw. Streaming-Dienste sowie für Telekommunikation.

Prof. Dr. Michael Heise ist einer der besonders renommierten deutschen Ökonomen. Heute ist er unter anderem tätig als Chefökonom von HQ Trust sowie Inhaber und Gründer von Macroadvisors. Der promovierte Volkswirt war von 2002 bis 2019 Chefvolkswirt der Allianz. In dieser Funktion hat er den Vorstand in volkswirtschaftlichen und strategischen Fragen beraten. Vor dem Eintritt in die Allianz und Dresdner Bank war Heise über mehrere Jahre Generalsekretär des Sachverständigenrats für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („fünf Wirtschaftsweise“).

 

Foto Prof. Dr. Michael Heise

 

„Rascher ging’s bei Aktien noch nie runter“

Herr Heise, seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben wir dramatische Bewegungen an den Aktienmärkten erlebt. Der DAX hat ab 19. Februar in nur 20 Börsentagen rund 40 Prozent verloren. Rascher ging’s noch nie nach unten, aber seit 19. März wurde schon gut ein Drittel aufgeholt. Wie erklären Sie sich diese Stimmungsschwankungen?

Michael Heise: Für die Finanzmärkte war von Anfang an eine Frage ganz entscheidend: Würde es den Staaten gelingen, die Infektionsdynamik abzuflachen und wie viele Tage, Wochen oder Monate würde es dauern? Inzwischen zeigt sich, dass die teilweise sehr restriktiven Ausgangsbeschränkungen, die Maßnahmen zur Quarantäne und die Geschäftsschließungen wirksam sind, um das Virus einzugrenzen. Das hat die Stimmungslage nach dem Einbruch wieder verbessert.

Die Teilstillegung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens haben also dazu geführt, dass viele Anleger erst einmal Aktien verkauft haben?

Michael Heise: Dass diese einschneidenden Maßnahmen in vielen Ländern mit ganz gravierenden ökonomischen Konsequenzen verbunden sein würden, war klar. Mit einem taten sich die Finanzmärkte aber sehr schwer: Die Dauer dieser Einschränkungen und damit die Auswirkungen des Coronavirus auf den Umsatz oder die Cash Flows der Aktiengesellschaften in der näheren oder ferneren Zukunft einigermaßen zuverlässig einzuschätzen. Viele reagierten daher erst einmal schockiert und stellten Aktien zum Verkauf.

 

„Wir haben gelernt, wie wichtig starke Signale sind“

Die Politik hat ja dann in vielen Ländern gesagt, dass keine gesunde Firma wegen der Corona-Krise Pleite gehen soll. Hat dieses starke Signal schließlich geholfen, die Stimmung zu drehen?

Michael Heise: Die weitreichenden Ankündigungen vieler Regierungen haben zumindest für eine Beruhigung gesorgt. Nicht nur die Regierungen, auch die Zentralbanken haben ja weltweit eine große Fülle von Gegenmaßnahmen ergriffen, um die Wirtschaft insgesamt, aber auch die Unternehmen und Privathaushalte zu stützen.

Haben hier auch die Erfahrungen in der großen Finanzkrise vor gut zehn Jahren geholfen?

Michael Heise: Ja. Damals haben wir gelernt, wie wichtig es ist, dass Politik und Notenbanken mit starken Signalen dafür sorgen, dass Firmen, Banken und Privatleute weiterhin Zugang zu Liquidität haben – sei es durch staatliche Hilfen oder über die Märkte und das Bankensystem. Sonst hätte die Verunsicherung noch viel stärker um sich gegriffen.

 

„Ich erwarte für 2020 ein BIP von etwa minus 5 Prozent“

Im Laufe des Monats März haben Investoren sehr genau hingeschaut, als Konjunkturforscher abzuschätzen versuchten, wie sich der Lockdown auf die Wirtschaftsleistung auswirken würde. Wie sehen Sie das heute?

Michael Heise: Die ersten ganz einfachen Rechnungen für Deutschland haben gezeigt: Wenn das Produktionsniveau für zwei Monate nur 75 Prozent des Ausgangsniveaus beträgt, würde das BIP-Wachstum für 2020 nicht mehr bei nahe Null, sondern bei etwa minus 5 Prozent liegen. Da der „Lockdown“ etwas länger anhält, gehen viele Wirtschaftsforscher inzwischen von einem Minus von bis zu 7 Prozent aus.

Viele waren überrascht, dass der Einfluss der staatlichen Restriktionen auf die Wirtschaftsleistung in Deutschland nicht noch größer war. Wenn man in den kritischen Wochen durch die Straßen ging, hatte man den Eindruck, dass alle Räder still stehen. Wie erklären Sie sich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen?

Michael Heise: Für Unternehmen und Privathaushalte kann sich das Virus im Einzelfall dramatisch und existenzgefährdend auswirken. Da gibt es überhaupt kein Vertun. Wenn die Wirtschaft insgesamt dennoch nur begrenzt betroffen ist, hat das einen Grund: Die einschlägigen Branchen – von Gastgewerbe, Hotels und Luftverkehr bis zu Kultur, Freizeit und Sport – machen zusammengenommen etwas weniger als 10 Prozent der Bruttowertschöpfung in Deutschland aus.

 

„Die Finanzmärkte haben sich vom aktuellen Geschehen abgekoppelt“

Immer wieder hört man nachdenkliche Stimmen, die darauf hinweisen, dass bei den in der Realwirtschaft zu erwartenden hohen Arbeitslosen- und Insolvenzzahlen die Finanzmärkte vergleichsweise positiv gestimmt sind. Sehen Sie hier auch eine Diskrepanz?

Michael Heise: Wenn ich mir den Kursverlauf z.B. deutscher Aktien anschaue, dann lese ich daraus eines: Die Finanzmärkte sind durchaus optimistisch und erwarten nicht, dass die künftige Wirtschaftsentwicklung in der Form eines „L“ ablaufen wird. Sollten die Aktionäre mit einer längerfristigen Stagnation unserer Wirtschaft rechnen, wäre die deutliche Erholung der Aktienkurse nach dem anfänglichen dramatischen Kurseinbruch in der Tat wenig plausibel.

Sind dann nicht all jene Anleger auf dem Holzweg, die immer noch auf einen kräftigen Rückgang der Kurse spekulieren, um günstiger einzusteigen?

Michael Heise: Ich glaube, dass sich die Finanzmärkte tatsächlich etwas vom aktuellen Geschehen in der Wirtschaft abgekoppelt haben. In den Aktienkursen ist viel Optimismus eingepreist. Der Lockdown wird zwar seit kurzem in vielen Ländern schrittweise gelockert. Aber wir müssen weiterhin damit leben, dass es noch viele schlechte Nachrichten geben wird, etwa zu Kreditausfällen, Liquiditätsengpässen, Kurzarbeit, Insolvenzen. Wir haben es immerhin mit einem ganz lange nicht gesehenen Einbruch der Wirtschaftstätigkeit und mit massiven Verlusten und hoher Schuldenaufnahme zu tun.

 

„Bei Aktienanlagen in krisengeschädigten Branchen genau hinsehen“

Was raten Sie Anlegern konkret?

Michael Heise: Fragwürdig ist, ob es für Anleger sinnvoll ist, auf die kurzfristige Volatilität zu spekulieren. Für langfristig orientierte Anleger ist das derzeitige Einstiegsniveau sicher nicht schlecht.

Sie sagen, die Anleger werden noch viel Unerfreuliches zu verdauen haben. Welche Branchen wird das in Deutschland besonders treffen?

Michael Heise: Noch ist nicht sicher abzuschätzen, wie sich die Nachfrage der Kunden entwickelt. Nicht in jedem Sektor werden Kunden krisenbedingt ausgebliebene Geschäfte nachholen, sobald die Unternehmen irgendwann wieder annähernd normal arbeiten.

Welche Sektoren werden künftig besonders betroffen sein und was bedeutet das für Anleger?

Michael Heise: Ich rechne mit längerfristigen Nachfrageveränderungen in folgenden Branchen: Touristik, Hotels, Fluglinien, Schiffsverkehr, Großveranstaltungen, Gaststätten. Vorsichtige Anleger sollten hier ganz genau hinschauen, bevor sie sich in Aktien engagieren.

Was erwarten Sie in den durch Corona geschädigten Branchen?

Michael Heise: Mit stärkeren Nachholeffekten rechne ich hier nicht. Daher dürften die Umsätze über das gesamte Jahr geringer sein und werden Restrukturierungen und Konsolidierungen folgen. Aber auch in anderen Branchen werden sich Unternehmen, die schon vor der Krise schwach waren, nach dem Ende des Lockdown schwer tun, wieder Anschluss zu finden und rasch zu gesunden.

 

„Wenn ein Impfstoff käme, könnte es rasch nach oben gehen“

Wohin wird die Reise an den Aktienmärkten gehen?

Michael Heise: Die Bewertungen an den Aktienmärkten werden in den nächsten Quartalen mit der Erholung der Wirtschaft nach oben tendieren. Die Entwicklung dürfte aber durch heftige Schwankungen gekennzeichnet sein, denn die Märkte werden, wie schon oben erwähnt, auch noch mit schlechten Nachrichten konfrontiert werden, sozusagen als Nachwehen der Corona-Krise.

Wenn wir den Blick etwas weiter nach vorne richten: Wann wird es zu einer klaren Kehrtwende an der Börse mit dann wieder nachhaltig steigenden Aktienkursen kommen?

Michael Heise: Eine rasche Korrektur nach oben könnte ich mir vorstellen, wenn ein Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt und erfolgreich getestet wurde. Oder wenn es trotz der wieder gegebenen Mobilität und der Normalisierung von Geschäftsaktivitäten nicht zu steigenden Infektionen kommt, sondern bei weiter sinkenden Infektionszahlen bleibt, weil die Verhaltensweisen der Menschen vorsichtiger sind. Das würde die Zukunftserwartungen erheblich verbessern.

 

„Es ist sinnvoll, die Bestände an Risikoanlagen aufzufüllen“

Können Sie Anlegern empfehlen, die Bestände an Risikoanlagen jetzt schon wieder aufzustocken?

Michael Heise: Ja, es ist sicherlich sinnvoll, auch wieder stärker in Risikomärkten aktiv zu werden. Der Anteil dieser Anlagen am Gesamtportfolio hat in letzter Zeit doch ziemlich gelitten. Manche Investoren sind hier inzwischen untergewichtet. Das ist derzeit nicht empfehlenswert. Eher erscheint es sinnvoll, die Bestände an Risikoanlagen schrittweise wieder aufzufüllen. Wahrscheinlich tut das auch mancher Anleger, sonst hätten sich die Kurse nicht so fangen können, wie wir das erlebt haben.

In welchen Branchen sehen Sie nach der Corona-Pandemie neue Chancen für Aktienanleger?

Michael Heise: Mehr Aktienkapital für die Finanzierung von Wachstum und Innovation werden wir in den Sektoren brauchen, deren Leistungen im „neuen Normal“ bei Kunden stark gefragt sind. Dies zeichnet sich heute ab für medizinische Ausrüstung, Gesundheitsprodukte, E-Commerce und für digitale Kommunikationsmittel wie Telearbeit und Streaming-Dienste sowie für Telekommunikation. Diese Bereiche der Wirtschaft werden aus meiner Sicht expandieren und zu den Gewinnern des Strukturwandels gehören, der mit dem Auftreten von COVID-19 einhergehen wird.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie hier.

 

 

DR. HERBERT WALTER 

Foto Dr. Herbert Walter

Dr. Herbert Walter arbeitet seit rund 40 Jahren in der Finanzbranche. Seine Laufbahn begann er 1983 in der Deutschen Bank. Dort war er zuletzt Mitglied des obersten Konzernführungsgremiums und weltweit verantwortlich für den Unternehmensbereich Private & Business Clients. 2003 wurde er Holdingvorstand der Allianz SE und Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank AG. Seit 2009 ist er selbständig tätig und Inhaber von Dr. Herbert Walter & Company, einer unabhängigen Beratungsfirma mit Fokus auf Finanzdienstleister.